Samia – (k)ein Einzelschicksal
Das einzige, was noch stärker ist als Angst, ist Hoffnung.
Flüchtlinge nehmen die Strapazen einer Flucht nicht mal eben so aus einer Laune heraus auf sich. Sie fliehen, weil sie in den Ländern, die eigentich ihre Heimat sind, keine Perspektiven mehr für sich und ihre Familien sehen. Und auch, weil sie keine Möglichkeiten sehen, im Land selbst noch positive Änderungen zu bewirken.
Das Thema der Unterbringung, Geld, juristische Fragen, Proteste für und dagegen – das sind in den meisten Fällen die Themen, um die sich die Berichterstattungen über Flüchtlinge drehen. Viel zu selten hört oder liest man von einzelnen Menschen.
Im Januar erschien eine Graphic Novel von Reinhard Kleist über Samia Yusuf Omar, die 17-jährigen Flaggenträgerin ihres Landes, die 2008 bei den Olympischen Spielen in Peking mit ihrem Auftritt viele Menschen berührte – die junge Frau aus Somalia war unglaublich kämpferisch, lief beim 200-Meter-Lauf ihre persönliche Bestzeit, wurde Letzte, war aber beim Publikum ganz weit vorne!
Sie lebt zusammen mit ihrer Mutter, ihr Vater war 2006 bei einem der vielen Konflikte in ihrem Heimatland umgekommen. Zurück in Mogadischu läuft Samia, obwohl die islamistische Al-Shabaab-Miliz Frauen das Laufen verbietet. Eine Frau darf keinen Sport treiben. Sie wird von den Extremisten bedroht. Dennoch hält sie an ihrem Traum fest, will Profisportlerin werden.
Im April 2012, vier Jahre nach den Olympischen Spielen, ertrinkt Samia Yusuf Omar im Mittelmeer auf der Überfahrt nach Europa – die damals 21-Jährige Läuferin; schwimmen hatte sie nie gelernt.
»Nachdem die von Mustafa Abdelaziz trainierte Samia Yusuf Omar in ihrem Heimatland Repressalien und Drohungen ausgesetzt war, ging sie im Oktober 2010 zu Verwandten nach Addis Abeba in Äthiopien. Da die somalische Botschaft sich weigerte, ihr Papiere auszustellen, kam ein Training beim äthiopischen Leichtathletikverband nicht zustande. Sie entschloss sich zur Flucht nach Europa mit dem Ziel, 2012 bei den Olympischen Spielen in London teilnehmen zu können. Dabei wurde sie von ihrer Familie und Verwandten in Europa finanziell unterstützt. Im September 2011 schloss sie sich Flüchtlingen an und kam über den Sudan nach Libyen, wo sie in einem Lager untergebracht wurde und nach einer ersten gescheiterten Bootsflucht auch einige Wochen im Gefängnis zubrachte. Im April 2012 unternahm sie zusammen mit ihrer Tante in einem mit 62 Personen besetzten Schlauchboot einen weiteren Versuch nach Europa zu kommen. Bei der Überfahrt sollten die Flüchtlinge vor der Küste Maltas von einem Schiff aufgenommen werden. Sie stürzte dabei mit einigen anderen Personen im Gedränge ins Wasser und ertrank.« – Wikipedia
Reinhard Kleist erzählt in seiner Graphic Novel diese wahre Geschichte von Samia – stellvetretend für unzählige Flüchtlingsschicksale: Dafür rekonstruiert Kleist Facebook-Einträge, die Samia so oder so ähnlich gepostet haben könnte. Die echten wurden inzwischen gelöscht, aber er sprach persönlich mit Samias fünf Jahre älteren Schwester.
»Liebe Freunde! Ich konnte gestern nicht trainieren gehen, weil die Milizen mich nicht durchgelassen haben. Sie sind überall und belästigen die Leute. (…) Und jetzt haben sie mich auch am Telefon bedroht! Jemand muss denen meine Nummer gegeben haben. Warum lassen die mich nicht trainieren? Das ging doch früher auch.«
und weiter
»Liebe Freunde, kennt ihr das, wenn ihr beim Verwirklichen eurer Träume ausgebremst werdet.
Ich muss einsehen, dass ich hier in Mogadischu keine Chance habe, optimal zu trainieren. Ich könnte die wände hochgehen!
(…)
Und dann bin ich Spitzensportlerin und kann mir so einen teuren Dress für Läufer und gute Sportschuhe leisten, wie sie all die anderen haben.«
und später
»Ich packe meine Sachen für die Reise. (…) Nur Gott weiß, wie lange wir unterwegs sein werden.
Ich nehme eine leichte Nylontasche mit. Darin habe ich zwei Hosen, drei T-Shirts und ein Sweatshirt für die kalten Nächte. Ein Handtuch, Zahnbürste und zwei Kopftücher. Mein Handy. «
Samias Lebensgeschichte berührt und zeigt gleichzeitig auf, welchen Strapazen, Entbehrungen und lebensgefährlichen Situationen sich Flüchtlinge heutzutage aussetzen müssen, für die trügerische Hoffnung auf ein glücklicheres Leben in der Fremde ohne Krieg und Verfolgung.
Diese Geschichte beschämt mich. Und nicht nur diese. Wenn Menschen ihre Heimat verlassen, sich auf eine Reise begeben, auf der sie ihr Leben und mitunter auch das ihrer Kinder in erhebliche Gefahr bringen, dann kann unsere Antwort darauf doch nicht sein, dass ‚es irgendwann dann auch mal genug sei‘.
Der unter anderem im Netz an vielen Stellen für mich unverholen zur Schau getragene, ver- und zerstörende Rassismus gerade jetzt im Zuge der Flüchtlingskatastrophe macht mir Angst. Der Rechtspopulismus hat offenbar zugenommen. Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennt sich das; habe ich mal gelernt … Kern einer solchen Haltung ist eine Art Ideologie der Ungleichwertigkeit – die Gleichwertigkeit und Unversehrtheit von spezifischen Gruppen der Gesellschaft wird in Frage gestellt.
Aber bei der Flüchtlingskrise, die sicherlich noch eine ganze Weile andauern wird, helfen uns weder rechte Hetzer noch linke Träumer!
Wo ständen wir Deutschen zum Beispiel, wenn es 1948/49 keine Luftbrücke nach Berlin gegeben hätte?
Wenn Orte wie Turnhallen, Kasernen o.ä. sprechen könnten, würden sie uns erzählen, dass sie schon 1945 zum Teil den Großeltern derjenigen Zuflucht boten, die jetzt lauthals „Nein“, „es reicht“ oder „das Boot ist voll“ brüllen. So zum Beispiel auch Friedland. Für Millionen Menschen war und ist die Ankunft im Lager Friedland in Niedersachsen der Beginn eines neuen Lebens – oder eine Atempause. Der Film erinnert an deutsche Kriegsheimkehrer und begleitet heutige Asylbewerber. Wer sich die Zeit nehmen möchte, dem empfehle ich die Reportage über das ‚Durchgangslager‘ Friedland.
Und – von der Gründung der DDR im Oktober 1949 bis zur Grenzöffnung am 9. November 1989 verließen von den rund 17 Millionen Einwohnern rund 3,5 Millionen den ostdeutschen Staat, 3 Millionen durch Flucht …
Niemand verläßt ohne triftige Gründe seine Heimat.
Klar ist auch, solange sich nichts an den grundlegenden Problemen und den Ursachen in den betroffenen Ländern ändert, wird auch der Flüchtlingsstrom aus Afrika nicht versiegen. Im Gegenteil. Was wir sehen und täglich in den Nachrichten hören, ist wahrscheinlich nur der Vorbote einer noch größeren Entwicklung, die unser Jahrhundert auch charakterisieren wird.
Noch so hohe Schutzzäune werden diese Entwicklung nicht stoppen können. Wenn wir in die Zukunft blicken, braucht man vor dem Hintergrund der Kriege und Unruhen, des Klimawandels und der demographischen Entwicklung in Afrika nicht viel Vorstellungskraft, um zu erkennen, dass wir den Migrationsstrom nur dann mindern können, wenn wir die Ursachen und nicht nur die Symptome bekämpfen.
Reinhard Kleist: "Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia
Yusuf Omar", Carlsen Verlag, 152 Seiten, 17,90 Euro.
ISBN: 978-3-551-73639-0
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WORTGEWÖLK
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Hallo Silke,
Du sagst es: Die Ursachen müssen verändert werden.
Wir nehmen die Flüchtlinge auf und unsere Politiker sollen endlich in den Ursprungsländern die Lebenssituationen verändern.
So können wir alle mit Hoffnung in die Zukunft schauen. Doch es ist noch ein weiter Weg bis dahin.
Vielen Dank für Deinen Beitrag
Margarete