»Wir werden uns dem Leben stellen müssen

Wer das einfache Leben sucht, wird sich auf Dauer überfordert fühlen und das Gegenteil von Ruhe finden: Stress. Das liegt ganz einfach daran, dass die Einfachheit für die meisten von uns in dieser Welt kein passendes Umfeld findet, höchstens mal eine Nische. Nach allem, was wir beobachten können, nimmt die Komplexität in unseren gesellschaftlichen Beziehungen genauso zu wie die Geschwindigkeit des gesellschaftlichen und ökonomischen Wandels und die damit einhergehenden Anforderungen an jedes Individuum. Wer da meint, bremsen und vereinfachen zu wollen, erinnert an einen Fahrgast, der am rasenden Zug hängt und versucht einen Fuß auf den Erdboden zu bekommen. Ein besserer Rat wäre, entweder im Zug und dessen Eigengeschwindigkeit zurecht zu kommen oder am nächsten Bahnhof auszusteigen und dann in eigener Geschwindigkeit weiterzureisen.

Jede Komplexitätsreduzierung läuft immer auch Gefahr, das große Ganze misszuverstehen und den Anschluss zu verlieren. Natürlich kann man aussteigen, wenn man zum Beispiel keine großen Verpflichtungen gegenüber anderen Menschen hat. Man kann sicher auch beispielsweise als ganze Familie aussteigen, wenn man entweder das Risiko und die Unannehmlichkeiten nicht scheut, die das mit sich bringen kann oder wenn man es sich einfach leisten kann, weil man den Broterwerb nicht nötig hat.

Es sind von vornherein Randgruppen, für die der Ausstieg und damit die radikale Vereinfachung wirkliche Optionen sind. Für alle anderen heißt es, sich mit dem Leben und seiner Komplexität zu arrangieren. Auch hier kann und sollte man Elemente von Minimalismus, Askese und Authentizität mitnehmen, um in die Balance zu kommen, die die eigenen Bedürfnissen mit den Herausforderung verknüpft, die jedes moderne Leben nun einmal hat. Dogmen oder Ismen sind dazu nicht biegsam und anpassungsfähig genug. Mit rigiden Konzepten als Anspruch an sich und sein Leben wird man immer wieder an den Realitäten scheitern, die geradewegs in die andere Richtung zeigen: zunehmende Komplexität, Agilität und Geschwindigkeit. Wer damit zurechtkommen will, sollte sich andere Fragen als die der Vereinfachung stellen. Etwa: Wie richte ich mein Leben, Lernen, Lieben so aus, dass ich auch in einer sich ständige ändernden, sich weiterentwickelnden Welt Freude daran habe?

Für mich ist dabei eine große Offenheit die beste Strategie: Neugier und der Wille mein Leben fortwährend zu ändern und mich dabei weiter zu entwickeln, scheinen mir gangbare Wege in solch einer volatilen Welt zu sein.«

[Fundort: Geist und Gegenwart: Gegen die Leichtigkeit des Seins, 8. April 2018]

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