…nein, die haben wir alle nicht, die das Glück hatten, im Frieden geboren und erwachsen geworden zu sein.

Aber, wir können das ein oder ander versuchen zu erahnen: Kind im zweiten Weltkrieg. Diese unvorstellbare Belastung. Dem Schicksal ausgeliefert. Erwachsene töten einander. Niemand fragt die Kinder, was sie sich eigentlich wünschen. Sie sollen damit zufrieden sein, überleben zu dürfen.

Wir jüngere Generationen können uns solche Dimensionen kaum vorstellen. Umso schwerer ist es da manchmal, das Verhalten von Menschen zu verstehen, die in genau dieser Situation waren und groß geworden sind. Als Kind den zweiten Weltkrieg überlebt haben. Noch heute Kriegskinder sind.

SpurensucheIhr habt ja alle keine Ahnung!_7_fundwerke_032014

Ich hätte wohl nie eine Reise nach Ostpreußen unternommen, wenn mein Vater nicht von dort allein mit seiner Mutter am Ende des Krieges über das zugefrorene Frische Haff fliehen musste. Im vergangenen Sommer war es soweit. Wir hatten es tatsächlich geschafft, uns diese eine Woche für unsere gemeinsame Reise freizuhalten. Es hat mich sehr bewegt, mit meinem Vater eine Woche in Polen unterwegs sein zu können – eine Art Spurensuche.

Ihr habt ja alle keine Ahnung!_2_fundwerke_032014Ein schöne Reise durch herrliche Wald- und Seen-Landschaften, kleine Ortschaften, grüne Alleen, das quirrlige Danzig.Ihr habt ja alle keine Ahnung!_8_fundwerke_032014
Und dennoch immer wieder bei mir die Frage: Wie konnte man hier Krieg führen?

Das Haus mit der ehemaligen Wohnung der Eltern meines Vaters steht noch. Vielleicht könnte man im Hinterhof sogar noch Geschirr und Besteck finden, was damals kurz vor der Flucht unter der Erde vergraben wurde.

Ihr habt ja alle keine Ahnung!_5_fundwerke_032014Wir waren auch bei der Wolfsschanze, dem ehemaligen militärischen Lagezentrum des Führungsstabes, in dem Graf von Stauffenberg am 20. Juli 1944 das misslungene Attentat auf Adolf Hitler verübte. Standen vor Bunker Nr. 13; dem Führerbunker – Schaltzelle des unglaublichen Terrors.

Und dann wieder die Wallfahrtskirche Heilige Linde mit einer einzigartigen Orgel. Eine Ordensschwester spielte für eine viertel Stunde diese Orgel. Das Gehörte lässt einen nicht mehr los…Ihr habt ja alle keine Ahnung!_6_fundwerke_032014

Wechselbad der Gefühle. In einem Moment Sonnenschein und Reiselust. Im nächsten Augenblick düstere Ahnung dessen, was hier während des zweiten Weltkriegs wohl alles passiert sein muss.

Erinnerungskultur

Wenn man sich mit älteren Menschen unterhält, die damals Kinder waren, Kriegskinder, wird schnell klar: Viel zu wenig ist direkt nach dem zweiten Weltkrieg gesprochen, sich von der Seele geredet worden. Es ging ums bloße Überleben. Am wenigsten wurde mit den Kindern geredet. Nachfragen wurden oft schnell im Keim erstickt. Der Zeitgeist der Nachkriegszeit postulierte in Deutschland: „Sei still, frag‘ nicht zuviel, das Leid der anderen war viel schlimmer. Du lebst.“

Um so wichtiger ist es, sich wenn, dann vielleicht auch erst sehr spät wieder zu erinnern. Zu versuchen, mit den nachfolgenden Generationen über Erlebtes zu sprechen. Anders lässt sich vielleicht sonst nie erklären, warum man nicht nur bei den heute älteren Leuten, sondern zum Teil auch an sich selbst, als Kriegsenkel, kleine Verhaltensmustern beobachtet, von denen man gar nicht weiß, warum man diese eigentlich hat oder woher sie kommen.
Bei vielen älteren Menschen kommen die Erinnerungen erst allmählich hervor und mit ihnen auch Ängste.

Ihr habt ja alle keine Ahnung!_4_fundwerke_032014Früher dachte ich immer, darüber müsse man doch ‚einfach‘ reden können. Aber wahrscheinlich geht das in vielen Fällen nicht so ‚einfach‘. Das nicht darüber reden, könnte ja auch ein Schutz, ein Überlebensschutz sein – bloß nicht verrückt oder depressiv werden, bei all dem Erlebten und Gesehenen. Nur so konnten die Kriegskinder lange Zeit weiterleben, ein ’normales‘ Leben führen … Sie funktionierten, halfen beim Aufbau, fragten selbst wenig.

Wie muss sich das 1945 nach dem Krieg in Deutschland angefühlt haben? Alle Überlebenden lebten ‚zusammen‘ in einem Land: Juden, die die Naziherrschaft überlebt hatten, Kriegswitwen, ehemalige SS-Männer, Kinder und Jugendliche … Deutschland ist ihre Heimat; das ist eine erschreckende Gemeinsamkeit. Eine Heimat, in der nach dem Krieg auf unvorstellbare Weise Lebenswelten und Überzeugungen, zusammenprallten.

»(…) man kann sich nicht in Trauer einkapseln. Es geht vorwärts, ob man will oder nicht. Man braucht Überlebensstrategien. Traurig nach innen, funktionieren nach außen,«

so ein Überlebender. Obwohl er als Kind durch 25 Zentimeter hoch stehendes Eiswasser waten musste, viele Fuhrwerke neben ihm im brüchige Eis einsanken, weil sie von sowjetischen Tieffliegern beschossen wurden; Menschen um ihn herum in Scharen ertranken und erfroren.

Deutschland wurde wieder aufgebaut – von Tätern und Opfern, geprägt von ihren Erlebnissen, ihrer Vergangenheit.

Für mich manchmal unbegreiflich, wie sich aus all diesen Erfahrungen trotzdem langsam eine neue deutsche Identität formen konnte.

Das liegt sicherlich auch daran, wie unterschiedlich die Verarbeitungsmethoden der einzelnen Betroffenen sind. Während manch einer nur nach vorne schaute, leugneten andere Auschwitz und Buchenwald, rühmten ihre Kriegstaten. Andere wiederum erzählten schneller von ihrer Vergangenheit und dem Krieg, um uns, die Nachwelt, über das Geschehene aufzuklären; für ein „Nie wieder!“

Kriegskinder

Beim Versuch des Verstehens des für mich Unvorstellbarens, haben es mir persönlich unter anderem zwei Bücher angetan. Sie haben mir auch das erste Mal konkret dabei geholfen sowohl meinen Vater, der als Kind im Krieg Krankheit, Hunger, Bombadierung, Tote und Flucht erlebt hat, als auch nicht erklärbare Momente und Situationen in meinem eigenen Leben besser zu verstehen.

Gemeint sind die Bücher von Sabine Bode ‚Die vergessene Generation‘ und Hilke Lorenz ‚Kriegskinder‘.

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Beide Autorinnen zeigen, wie die wenigen Wochen der Flucht als Kind den Menschen sein ganzes Leben lang prägen, wie sich das Trauma dieser Kinder oft sogar noch in der zweiten Generation zeigt. Die Bücher offenbahren sensible und tiefe Einblicke in die Seelen der geflohenen Kinder. Dabei bewegen sich die Bücher zwischen Geschichte und Psychologie, haben damit einen ganz eigenen, faszinierenden Stil, wenn man sich auf diese Art der Vergangensheitsbewältigung einlassen möchte.

Wie haben die Deutschen, deren Kindheit durch den Zweiten Weltkrieg überschattet war, ihre Erfahrungen verarbeitet? Welchen Einfluss hatten die Erfahrungen der Kriegskinder auf die Art, wie sie dann ihre eigenen Kinder erzogen?

Es wird deutlich, wie Kinder durch die Erlebnisse im Krieg und in der Nachkriegszeit, durch unbeschreibliche Angst, Hoffnungslosigkeit und Hunger traumatisiert wurden und welchen Einfluss das zum Teil auf ihr späteres Leben hatte oder noch hat.

Das Thema war lange Zeit tabuisiert, sozusagen ein Erinnerungstabu – schließlich hatte Deutschland den Krieg begonnen und soviel Leid und Schrecken gebracht. Da war es schwierig, verboten, sich selbst, obwohl man zur Zeit des Kriegs ein Kind war, als Opfer zu sehen.

Und wenn ich mich so umschaue, bin ich der Meinung, dass es nach wie vor notwendig ist, sich mit der deutschen Vergangenheit und den unterdrückten Schmerzen zu beschäftigen.
Ich habe nämlich das Gefühl, dass immer noch viel zu viele Kriegskinder das meiste – wie sagt man so ’schön‘ – mit sich selbst ausgemacht haben. So allerdings haben wir Jüngeren nicht die Chance, die Älteren mit ihren Erfahrungen anzuerkennen und zu begreifen. Sondern es bleiben nur unklare Ahnungen und offene Fragen über die Familiengeschichte und damit zum Teil über sich selbst.

Schließlich gibt es in Deutschland keine Familie, an der die NS-Zeit spurlos vorrüber gegangen ist.

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6 Responses to Ihr habt ja alle keine Ahnung!

  1. mike sagt:

    Ich bin froh, dass ich in Frieden aufwachsen durfte. Ich habe mir über dieses Thema schon oft Gedanken gemacht. Ich hoffe nur das meine Generation keinen Krieg mehr erleben muss. Doch in Anbetracht des langen Friedens ist das wohl eher Wunschdenken. Vielleicht haben wir auch Glück! Doch dann muss es die nächste Generation ausbaden.

  2. Klaus sagt:

    nachdenklicher, sehr bemerkenswerter Bericht. Deine Gedanken ……als „Betroffener“ bin ich überrascht und erfreut.

  3. Regt wirklich zum Nachdenken an… toller Blog!

  4. Jana sagt:

    Vielen Dank. Ich finde dass der Beitrag genau zur richtigen Zeit kommt. Nach dem 2. Wektkrieg waren zum Glück alle vernünftig um einen Krieg zwischen Weltmächten in Europa zu verhindern. Aber heute wird wegen der Krim provoziert und attakiert. Niemand weiss wie es ausgeht. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns klar machen, was wir auf keinem Fall möchten: Krieg und Leid.

  5. Tore sagt:

    Man kann es sich heute kaum noch vorstellen, welche Entsetzen und Grauenvolles die Leute ertragen mussten.
    Man kann sich nur wünschen das es das nie mehr gibt.

  6. Liebe Silke,
    danke für diesen Beitrag.

    Ich hoffe, er trägt zu mehr Verständnis bei, auch für die heutigen Flüchtlinge.

    LG
    Margarete

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