99
16 Uhr – mein ehrenamtlicher Dienst beginnt.
Da ich die Schwerstkranken nur in den seltensten Fällen ein zweites Mal im Leben wiedersehen werde, ist jede neue Begegnung mit den Menschen auf der Palliativstation eine Herausforderung, der ich mit größtmöglicher Aufmerksamkeit und Achtung begegnen möchte.
„Übergabe“ – 12 Zimmer, 12 Menschen; jeder mit seiner ihm eigenen Geschichte …
… die alte Dame sei sehr schwach, desorientiert, aber noch ansprechbar. „Die 100 wird sie wohl nicht mehr schaffen“, meint der Pfleger – im Mai sei es soweit.
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„Ich denke, es dauert nicht mehr lange“, sagt die Schwester, als ich kurz vor Dienstende noch einmal in das Zimmer spitze und die Schwester, die am Bettrand sitzt, frage, ob ich noch ein wenig bei der alten Dame bleiben soll. Die Schwester verlässt das Zimmer, sagt, sie komme dann in ein paar Minuten wieder, um nach uns zu schauen.
Ich setze mich auf einen Stuhl nah an die Bettkante, flüstere leise wer ich bin und lege die kalte Hand der alten Dame in meine, die im Vergleich zu ihrer schon fast heiß ist, wo ich doch sonst diejenige bin, die immer so kalte Hände hat.
Ich lausche ihrem leisen, schwachen, aber ruhigen Atmen.
Sie ist schon ganz in sich. Die Augen geöffnet, aber trüb.
Ich bin voller Ehrfurcht.
Und plötzlich ist sie da, diese eine Träne, von der ich schon so viel gelesen hatte. Sie kullert über die linke Wange der alten Dame.
Ich bin so überwältigt – mir kommen die Tränen.
Jetzt ist sie wohl bereit zu gehen, denke ich noch, sie nimmt Abschied, zeigt ein letztes Mal ihre Liebe für diese Welt, in der sie, geboren 1916, so unglaublich viel erlebt hat, was ich nie erfahren werde.
Noch zwei tiefere Atemzüge, ein leichtes Zittern geht durch den zuvor reglosen Körper, nochmals ein ganz klein wenig, beinahe unmerkbar Luft holen, ihre Augen schließen sich fast – dann hat sie es geschafft.
In ihrem friedlich, entspannten Gesicht erahne ich im Augenblick des Todes etwas von der Welt, in die hinein sie verschwunden ist.
Leise ist sie über die Schwelle gegangen. Undramatisch. Die Träne hat sie zurückgelassen. Sie versickert langsam im Kragen ihres Nachthemdes.
Ich halte noch immer ihre Hand und bedanke mich still für das unglaubliche Geschenk, was sie mir gerade gemacht hat. Bedanke mich, dass ich bei ihr sein durfte.
Der Raum ist ausgefüllt mit Ruhe, Gelöstheit und Frieden.
Nach ein paar Minuten sage ich der Schwester Bescheid.
„Jetzt hat sie sich aber doch beeilt“, sagt die Schwester.
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6 Responses to 99
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über das Thema zu reden bzw. zu schreiben ist sicher sehr schwierig. Aber du hast genau den richtigen Ton getroffen – Respekt, ich weiß nicht, ob ich das könnte.
Liebe Grüße nach oben an die Frau:)
Ich denke, dass auch Du „das“ könntest. Es liegt in der Natur des Menschen, dass das Sterben, so wie die Geburt auch, ein Teil des Lebens ist. Insofern glaube ich, dass jeder Mensch auf seine ihm eigene Weise Sterbende auf ihrem letzten Weg begleiten kann, weil es ihm sozusagen angeboren ist.
Aber das Thema Sterben und Tod und alles, was damit verbunden ist, passt heutzutage nicht mehr so in unsere Vorstellung/unsere Erwartungen vom „Leben“ (früher waren die Menschen da näher dran: Das Sterben gehörte unmittelbar zum Leben in einer Familie. Genauso wie die Geburt, wurde das Sterben weitgehend in der Familie erlebt. So konnte die Einstellung zum Tod eher durch eigenes Erleben bestimmt werden als heute.).
Ein selbstverständlicherer Umgang mit einem Todesfall und Verstorbenen ist heute für viele schwer denkbar. Irgendwie hat man ihn verlernt.
Das Thema ist für viele Leute nach wie vor ein Tabuthema. Das hat sicherlich auch viel mit unseren Ängsten vor dem eigenen Tod zu tun. Obwohl gerade auch die Hospizbewegung schon viel dazu beigetragen hat, dass darüber offener gesprochen werden kann.
Und genau deshalb wünschte ich, jeder hätte die Möglichkeit, wenigstens einmal dabei sein zu können, wenn ein Mensch „friedlich“ diese Welt hier verlässt. Das ist ein großes Geschenk. Das würde sicherlich viel von diesen Ängsten nehmen.
LG :)
Kann mich da Helene nur anschließen. Sehr schöne Worte, welche sicherlich nicht einfach sind.
….was für ein Geschenk, so sterben zu dürfen.
Die letzte Strophe des Gedichts „wer Schmetterlinge lachen hört“ fällt mir dazu ein:
„wer mit sich selbst in Frieden lebt der kann auch friedlich sterben und ist selbst dann lebendiger als alle seine Erben“.
Wer Schmetterlinge lachen hört
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein,
ungestört der Furcht,
die Nacht entdecken.
Der wird zur Pflanze, wenn er will,
zum Stier, zum Narr, zum Weisen
und kann in einer Stunde
durchs ganze Weltall reisen.
Der weiß, dass er nichts weiß,
wie alle anderen auch nichts wissen.
Nur weiß er, was die anderen
und auch er selbst noch lernen müssen.
Wer in sich fremde Ufer spürt
und den Mut hat sich zu recken,
der wird allmählich,
ungestört von Furcht
sich selbst entdecken.
Abwärts zu den Gipfeln
seiner selbst bricht er hinauf,
den Kampf mit seiner Unterwelt
nimmt er gelassen auf.
Wer Schmetterlinge lachen hört,
der weiß, wie Wolken schmecken.
Der wird im Mondschein,
ungestört von Furcht
die Nacht entdecken.
Wer mit sich selbst in Frieden lebt,
der wird genauso sterben
und ist selbst dann lebendiger
als alle seine Erben.
– Novalis –
Dankeschön für den Hinweis und die Erinnerung an die letzte Träne, die ich auch schon einmal sehen durfte, bei meiner Großmutter. Da schenken mir deine Worte jetzt eine völlig neue Sichtweise, einen besonders lieben Gruß, hab einen schönen Sonntag