Glück kann grausam sein
»Aber es genügte mir auch schon und war mir ein gewisser Trost, wenn wenigstens andere aßen.«
Und noch ein Buch über den Holocaust, über das ‚Leben‘ im Konzentrationslager während des Nationalsozialismus.
Was macht den „Roman eines Schicksallosen“ so besonders, wird sich der ein oder andere fragen.
Imre Kertész Buch erzählt vom ‚Glück‘ im KZ. Als 15jähriger Junge wurde er selbst nach Auschwitz deportiert, dann weiter nach Buchenwald, später nach Zeitz.
In seinem „Roman eines Schicksallosen“ beschreibt er diese Zeit aus der Perspektive des naiven Jungen, unschuldig, wie er selbst war.
Seine Hauptfigur Köves Györgi, ein Schüler aus Budapest, hat 1944 noch nichts von den Konzentrationslagern gehört. Als er eines Tages aus dem Bus geholt und nach Auschwitz verschleppt wird, weiß er nicht, was ihn dort erwartet. Deshalb kann er das Geschehen völlig wertfrei beschreiben. Im Plauderton schildert der arglose Jugendliche, was er sieht und erlebt.
Nach quälend langer Fahrt in einem fensterlosen Güterwaggon, während derer einige verdursten, empfindet Györgi die Ankunft in Auschwitz und die deutschen Soldaten nicht als unangenehm:
»Doch ich bemerkte, daß hier draußen jetzt schon deutsche Soldaten (…) auf alles ein Auge hatten: ich war durch ihren Anblick sogar ein bißchen erleichtert, denn sie wirkten schmuck, gepflegt und als einzige in diesem Durcheinander ruhig und fest.«
Die kahlköpfigen, ausgemergelten Häftlinge in gestreiften Anzügen hält er für Straftäter und geht auf Distanz zu ihnen – kurze Zeit wird er selbst so aussehen.
Als er am gelben Dreieck bemerkt, daß es Juden sind, denkt er:
»Tatsächlich, sie sahen aus wie Juden, in jeder Hinsicht. Ich fand sie verdächtig und insgesamt fremdartig.«
Auch das Tun des Arztes bei der Selektion an der Rampe von Auschwitz ordnet er ein:
»Kam ein alter Mann – ganz klar, auf die andere Seite. Ein jüngerer – hier herüber, zu uns. (…) Und so, mit den Augen des Arztes, konnte ich nicht umhin festzustellen, wie viele von ihnen alt oder sonstwie unbrauchbar waren.«
Dieses für den Leser kaum ertragbare ‚Verständnis‘ für die Täter zieht sich durch den kompletten Roman. Die Grausamkeiten, die der Ich-Erzähler schildert, erscheinen ihm logisch, sobald er sich in die Lage der Unterdrücker versetzt.
Das Buch endet mit den Sätzen:
»Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen. Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.«
Auf die häufige Frage, wie Imre Kertész dies überhaupt habe schreiben können, sagte er:
»Momente des Glücks, das ist die Wahrheit. Glück kann grausam sein.«
Auschwitz könne man mit Worten eigentlich nicht beschreiben. Deshalb wählte der Autor bewusst einen Stil, der vieles weglässt, und dadurch noch viel mehr sagt. Schließlich weiß der Leser genau, was los ist, im Gegensatz zu der Hauptfigur.
Als heutiger Leser meint man, schon alles zu wissen und weiß doch nichts. Der Inhalt des Buchs ist häufig nur schwer zu ertragen. Mir ging das Buch extrem unter die Haut und wirkt noch immer – ich habe es vor einem Jahr gelesen – nach.
[1975 erschien der "Roman eines Schicksallosen" bei einem staatlichen Verlag
in Ungarn, wurde aber totgeschwiegen.
1985 brachte ihm die Neuauflage in einem liberaleren politischen Klima
literarische Anerkennung.
2002 erhielt Imre Kertész für den "Roman eines Schicksallosen" den Literatur-
nobelpreis.]
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WORTGEWÖLK
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Danke für den Artikel! Da passt ein bewegendes Interview mit Imre Kertész in der ZEIT: http://www.zeit.de/2013/38/imre-kertesz-bilanz.
Danke für den Link – ein wirklich sehr berührendes Interview-Gespräch.